Wenn Politik nicht liefert, was die Menschen erwarten, dann steigt die Unzufriedenheit. Das kann an den objektiven Umständen liegen oder an vorliegenden Erwartungshaltungen. Jedenfalls stellt dieses Phänomen eine Herausforderung dar, der wir aktuell nicht ausreichend begegnen. Mit bloßer Rhetorik ist es nicht getan.
Wo man hinsieht, kriselt es. Traditionelle Parteien verlieren an Zuspruch, ihre nichtssagenden Parolen erreichen die Menschen immer weniger. Dies gilt vor allem für die westliche Welt, wo doch Demokratie und Marktwirtschaft für ein Sicherheits- und Wohlstandsniveau gesorgt haben, das in der Geschichte der Menschheit einzigartig ist. Wenn Menschen ihr Wohlbefinden einschätzen, beurteilen sie jedoch nicht das absolute Niveau von Sicherheit und Wohlstand, sondern einerseits deren Veränderung im Zeitablauf und andererseits deren Entwicklung im Vergleich zu relevanten Peergroups. Schließlich wird die Wahrnehmung auch maßgeblich von Botschaften beeinflusst, die von außen auf sie einwirken. Es ist ziemlich augenscheinlich, dass ein fehlgeleitetes Demokratieverständnis derzeit Wachstum und Wohlstand kostet.
Nicht unterschätzen sollte man auch, dass das subjektive Empfinden von Zufriedenheit auch von Erwartungshaltungen geprägt wird, die über einen entsprechenden Wertekanon die Sozialisation der heutigen Gesellschaft beeinflusst haben. Dieser Wertekanon setzt auf Selbstverwirklichung, Anspruchsdenken und eine Forderungsmentalität des Individuums gegenüber der „Gesellschaft“, weniger auf den Glauben an reale Gegebenheiten, geschweige denn an Autoritäten. Die Erwartungshaltung breiter Gesellschaftskreise geht offenkundig von einer staatlichen Rundumfürsorge aus, die der moderne Wohlfahrtsstaat als Leistungsversprechen seit Jahrzehnten suggeriert hat. Die Wahrnehmung vieler Menschen ist, dass unsere Gesellschaften derzeit die Zukunft unserer Kinder verspielen.
Das Meinungsforschungsinstitut Pew fördert erschreckende Ergebnisse zu Tage
Das Meinungsforschungsforschungsinstitut Pew befragte im Zeitraum zwischen dem 14. Mai und dem 12. August 2018 insgesamt 30.133 Menschen in 27 Staaten zu ihrer Zufriedenheit mit der Demokratie in ihrem jeweiligen Staat. Die Ergebnisse dieser Studie sind gleichermaßen erstaunlich wie erschreckend. Das Ergebnis war sehr unterschiedlich in verschiedenen Ländern, allerdings hat sich die Zustimmung zum Erscheinungsbild der Demokratie insgesamt nachhaltig verschlechtert. Zum Teil ist dies sicher auch der Tatsache geschuldet, dass alte politische Argumentationsmuster nicht pragmatische Politik ersetzen.
In Deutschland gaben 43 Prozent der Befragten an, sie seien nicht damit zufrieden, wie die Demokratie funktioniert. Dies ist innerhalb eines Jahres (!) ein Anstieg der Unzufriedenen um 17 Prozentpunkte – der stärkste Anstieg der Unzufriedenen gegenüber dem Vorjahr unter allen europäischen Staaten. Ebenso wie in anderen europäischen Ländern war vor allem unter den Anhängern sogenannter “populistischer” Parteien die Unzufriedenheit besonders groß. Von den 27 Staaten, die in die Umfrage einbezogen waren, lagen 10 in Europa. Eine Mehrheit der Unzufriedenen gab es in sechs dieser europäischen Staaten. Mehrheitlich unzufrieden mit der Funktionsweise der Demokratie in ihren Ländern waren folgende europäische Staaten: Frankreich (51 Prozent), Ungarn (53 Prozent), Großbritannien (55 Prozent), Italien (70 Prozent), Spanien (81 Prozent) und Griechenland (84 Prozent). Dagegen gab es neben Deutschland noch eine Minderheit der Unzufriedenen in Schweden (30 Prozent), den Niederlanden (34 Prozent) und Polen (44 Prozent).
In fünf der zehn europäischen Staaten nahm die Unzufriedenheit statistisch signifikant gegenüber dem Vorjahr zu, nur in Frankreich war es umgekehrt. Dort fand die Umfrage zeitlich allerdings vor Ausbruch der Gelbwestenproteste statt. Auch in den USA unter Trump (einem “Populisten”) nahm die Zahl der Unzufriedenen von 51% auf 58% zu. Eine noch stärkere Zunahme der Unzufriedenheit als in Deutschland (+17%) gab es weltweit nur in Indien (+22%). Wen wundert es, dass sich derzeit in Deutschland die ehemals großen Volksparteien im freien Fall befinden?
Die Studie zeigt Zusammenhänge auf zwischen der Enttäuschung der Befragten über das Funktionieren der Demokratie und der wirtschaftlichen Situation im eigenen Land. Ebenfalls wichtig ist laut Studie das Gefühl, Politiker würden sich nicht für die Anliegen der Bevölkerung interessieren. Ein Motiv für die Unzufriedenheit ist laut Studie auch der Eindruck, durch Wahlen wenig bewegen zu können. Zufrieden mit ihrer Demokratie sind unter allen Befragten nur 45%.
Unzufriedenheit mit der ökonomischen Situation und der Demokratie korrelieren stark
Erwartungsgemäß gibt es einen klaren statistischen Zusammenhang zwischen der Unzufriedenheit mit der ökonomischen Situation und der Unzufriedenheit mit der Performance der Demokratie. Immer noch ist es leider so, dass im öffentlichen Diskurs politische Scheinargumente strukturelle Realitäten vernebeln. Die Studie zeigt auch, dass nicht nur die Einschätzung der absoluten ökonomischen Situation, sondern auch deren Beeinflussbarkeit durch individuelle Anstrengungen entscheidend für die Stimmungslage ist. Die Studie zeigt aber auch, dass das individuelle persönliche Einkommen kein besonders relevanter Faktor für die Zufriedenheit mit der Demokratie ist. Ebenso wenig sind Geschlecht, Alter oder Bildung statistisch besonders relevant.
Das folgende Schaubild stammt aus der Studie und zeigt den Zusammenhang zwischen ökonomischer Situation und Unzufriedenheit mit der Demokratie in verschiedenen Ländern:
Quelle: https://www.pewresearch.org/global/2019/04/29/many-across-the-globe-are-dissatisfied-with-how-democracy-is-working/, Zugriff: 06.06.2019
Die Schlüsselfaktoren für die Funktionsweise der Demokratie variieren weltweit
Naturgemäß gibt es zwischen einzelnen Ländern verschiedene Schwerpunkte, die die Einstellung zur Demokratie beeinflussen. Die Pew-Studie zeigt auch, wie zufriedenheitsrelevante Faktoren im Median der Gesamtbefragung eingeschätzt wurden. Der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen positiven und negativen Statements und der Demokratiezufriedenheit zeigt das folgende Schaubild:
Quelle: https://www.pewresearch.org/global/2019/04/29/many-across-the-globe-are-dissatisfied-with-how-democracy-is-working/, Zugriff: 06.06.2019
Die Befragten waren auch sehr kritisch in Hinblick auf ihre Politiker. 54% der Befragten in allen Ländern glauben, dass die meisten (!) Politiker ihrer Länder korrupt sind. Und nur 35% stimmen zu, dass gewählte Vertreter sich darum kümmern, was gewöhnliche Bürger denken. Hier zeigt sich ein typisches Problem demokratischer Länder. Das öffentliche Bild, das Politiker abgeben, ist – freundlich formuliert – mehr als nur unzulänglich. Dies führt dazu, dass reaktionäre Bunkerstimmung von Wutbürgern die Antwort auf die liberale Hybris der Eliten ist.
Warum die soziale Marktwirtschaft in Deutschland ebenfalls an Zustimmung verliert
Die deutsche Bertelsmann Stiftung hat eine breit angelegte Studie mit dem Titel “Wohlstand für alle. Wie inklusiv ist die soziale Marktwirtschaft?” in Auftrag gegeben, die im August 2017 erschienen ist. Die Ergebnisse dieser Studie indizieren aus meiner Sicht auch, warum Zweifel an der Funktionsweise der Demokratie mit Zweifeln an der Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft Hand in Hand gehen.
Im Abstract zur Studie schreiben die Autoren: „Wohlstand für Alle – dieses Versprechen verbinden viele Deutsche mit der Sozialen Marktwirtschaft. Vor dem Hintergrund der anhaltend hohen Einkommens- und Vermögensungleichheit werden in der öffentlichen Debatte jedoch immer häufiger Zweifel an der Fähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft laut, Wirtschaftswachstum mit sozialer Teilhabe zu kombinieren. … Einerseits wird auf die sinkende bzw. stagnierende Reallohnentwicklung der unteren Einkommensklassen und das damit verbundene Schrumpfen der Mittelklasse in den vergangenen 30 Jahren hingewiesen. Andererseits wird vielfach der Standpunkt vertreten, dass durch zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten im unteren Einkommenssektor die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg überhaupt erst eröffnet wird. Zudem verteile das deutsche Steuer- und Transfersystem im internationalen Vergleich bereits jetzt überdurchschnittlich viel um.”
Für die Untersuchung haben die Autoren den geschichtlichen Zeitverlauf seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland in drei Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung unterteilt: das Wirtschaftswunder (1949 – 1966), die Nachfragesteuerung (1967 – 1982) und die Angebotssteuerung (seit 1983). Die Phase des Wirtschaftswunders war von hohem Wachstum und relativ hoher, aber rückläufiger Ungleichheit gekennzeichnet. Trotz eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit konnte diese Tendenz auch in den Jahren der Nachfrageorientierung bestätigt werden. Eine Umkehr dieses Trends ist ab Mitte der 1980er Jahre, also mit Beginn der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, zu sehen. In Bezug auf die Chancengerechtigkeit in Deutschland zeichnet die Studie ein relativ positives Bild. Die Armutsrisikoquote entwickelt sich hingegen geographisch ziemlich differenziert.
Der “Indikator für inklusives Wachstum” entwickelt sich stabil seitwärts
Die Autoren der Bertelsmann-Studie haben einen Indikator entwickelt, der die Inklusivität der wirtschaftlichen Entwicklung (also die Teilhabe großer Bevölkerungsteile am Aufschwung) zusammengefasst darstellt, indem er Wachstum, Ungleichheit und Armut über die Zeitachse hinweg gemeinsam betrachtet. Es ist interessant, sich die Entwicklung des Indikators im Zeitablauf anzusehen:
Quelle: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/NW_Soziogramm.pdf, Zugriff: 06.06.2019
Die Autoren der Studie interpretieren den Indikatorverlauf für Deutschland wie folgt:
“Die erste Phase der Sozialen Marktwirtschaft zeigt einen starken Anstieg des Indikators, der vor allem durch die relativ hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts getrieben ist. Einer weiterhin starken Aufwärtsbewegung in den 1980er Jahren folgt ein Rückgang mit der Wiedervereinigung. Wie oben dargestellt, ist dies auf das abnehmende Pro-Kopf-BIP aufgrund der Eingliederung des wirtschaftlich schwachen Ostens sowie auf steigende interregionale Ungleichheit zurückzuführen. Im wiedervereinigten Deutschland vollzieht der Indikator weitgehend eine leicht steigende Seitwärtsbewegung. Dies bestätigt noch einmal die obige Diagnose, dass die robust positive wirtschaftliche Entwicklung in der BRD durch steigende Armuts- und Ungleichheitswerte in ihrer inklusiven Wertigkeit gedämpft wird.”
Das subjektives Empfinden der Menschen basiert zumindest teilweise auf objektiven Fakten
Überträgt man die Schlussfolgerungen zum “inklusiven Wachstum in Deutschland” auf andere europäische Länder mit weniger stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen und weniger robusten Wachstumsraten, so sind die Schlussfolgerungen klar. Es darf nicht verwundern, dass die Unzufriedenheit mit der Demokratie parallel zur Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der sozialen Marktwirtschaft massiv zunimmt. Der argumentative Kreis schließt sich. Individuelles Wohlstandsempfinden breiter Massen – vor allem in Relation zu relevanten Peergroups und anderen Geografien – und Rebellion gegenüber etablierten politischen Parteien (einschließlich der “liberalen Eliten”) gehen aus meiner Sicht Hand in Hand. Unversöhnliche Weltanschauungen höhlen die liberale Demokratie aus.
Die Mindestanforderungen an eine zukunftsfähige Demokratie erfordern eine klare Umorientierung unserer politischen Systeme. Dabei darf der psychologische Hintergrund im Empfinden vieler Menschen nicht übersehen werden. Der Westen braucht meiner Meinung nach eine völlig andere Art von Politik . Wenn wir das nicht begreifen, wird es bald ein böses Erwachen geben – nicht nur in der EU. Auch die USA erleben derzeit ein vergleichbares Phänomen einer politischen Revolte breiter Bevölkerungskreise.