Politischer Aktionismus auf der einen Seite, Fundamentalismus auf der anderen Seite haben unsere Gesellschaften erfasst. Es ist nicht die Dekadenz einer übersättigten Gesellschaft, die Europa in Rückstand geraten lässt. Weder inkompetente Politiker, noch ein dummes Wahlvolk lassen Europa international schlecht aussehen. Irgendetwas in unserer Demokratie läuft falsch.
Nachdem westlich-liberale Gesellschaften im Vergleich mit aufstrebenden Volkswirtschaften insbesondere in Asien relativ an Wachstum, Wohlstandsmehrung und Zukunftsoptimismus verlieren, stellt sich die Frage, was die tieferliegenden Ursachen sind.
Überflieger China & Indien
Die nachfolgende Übersicht zeigt das Wachstum des BIP in USD seit dem Jahr 1980. Damals rief Deng Xiaoping in China dazu auf: „Werdet reich! Reich werden ist ruhmreich.“ Dass Ideologie dabei nachrangig ist, belegt ein anderer berühmter Spruch von ihm: „Es spielt keine Rolle, ob die Katze weiß oder schwarz ist. Solange sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze.“ China startete damals seine wirtschaftliche Aufholjagt. Indien startete zehn Jahre später.
Während das BIP-Wachstum auf Dollarbasis den internationalen Bedeutungszuwachs Chinas widerspiegelt, zeigt die nachfolgende Graphik, dass die Entwicklung gemessen in Kaufkraftparitäten noch viel dramatischer ist. Kaufkraftparitäten geben den Wohlstandszuwachs besser wider und zeigen, dass China im Schnellzugtempo unterwegs ist. Kein Wunder, dass die Bevölkerung dort viel optimistischer in die Zukunft blickt als bei uns. Kein Wunder auch, dass die Bevölkerung ihre Regierung wesentlich mehr schätzt, als das bei uns der Fall ist.
Eine Frage des Antriebs
Sind wir einfach zu träge, um den hungrigen aufstrebenden Gesellschaften etwas entgegensetzen zu können? Zum Teil wahrscheinlich ja. Vor allem in der Breite der Gesellschaft ist das in Europa im Vergleich zu Asien durchaus zu konstatieren. Aber auch in Lateinamerika gibt es viel Nachholbedarf, auch „Hunger“ im Sinne von Bedürftigkeit. Dieser führt dort aber nicht auf direktem Weg zu hoher Leistungsbereitschaft, wie es in Asien der Fall ist. Ist es vielleicht eine zu niedrige Innovationskraft des Westens, die uns in Rückstand geraten lässt? Wohl eher nicht, der Pioniergeist junger Unternehmer ist wahrscheinlich nirgendwo in der Welt derart idealtypisch verkörpert wie im Silicon Valley. Und er existiert grundsätzlich auch in Europa wie in allen entwickelten Gesellschaften. Dennoch schießen immer neue Unternehmen in China aus dem Boden, auch wirklich große Unternehmen. Ist es die Dekadenz einer saturierten Mehrheitsgesellschaft, die grundlegende Reformen im Keim erstickt oder ist es die europäische Faulheit, die uns daran hindert, dass wir wachsen? Zum Teil wahrscheinlich ja. Wenn das aber entscheidend wäre, warum wächst dann Japan nicht, wo der Arbeitseifer ungleich höher ist als bei uns? Politische Umwälzungen in Frankreich, UK, USA und auch Osteuropa zeigen, dass die Menschen sich auch in westlichen Gesellschaften nicht auf ihr Ruhekissen zurückgezogen haben und jeden Wandel ablehnen, sondern Veränderungen suchen.
Ursachenforschung
Immer wieder wird argumentiert, dass bei der Auswahl der Politiker eine „Negativselektion“ stattfinde. Einerseits wird die „Ochsentour“ durch die Institutionen der Parteien erwähnt, die nur einen entsprechenden Menschentypus für die Parteiarbeit anziehe. Andererseits werden die wahrscheinlich zu niedrigen Politikergehälter – insbesondere für Spitzenkader – dafür verantwortlich gemacht. Die Abhängigkeit von den Parteien, die Politiker nach deren Ausscheiden weiter mit Jobs versorgen, ist ein weiteres Argument. Ich denke nicht, dass wir es heute mit schwächeren Personal zu tun haben als zur Zeit des Aufschwungs in der Nachkriegszeit. Wer sich daran stößt, welche „Typen“ in gesetzgebenden Körperschaften „herumlungern“, der möge das mit früher vergleichen. Alle oben zitierten Spielregeln des politischen Geschäfts galten auch schon früher. Wir haben es offenbar nicht primär mit einem personellen Problem zu tun, sondern mit einem strukturellen!
Ebenfalls wird argumentiert, dass die „allgemeine Volksverdummung“ zunehme, die Menschen einfach nicht mehr verstehen, was gut und was schlecht für sie sei. Die Welt werde komplizierter, Bildung nehme scheinbar ab. Menschen wissen daher heute nicht mehr, was sie in der Wahlzelle tuen. Derart präpotente Argumente halten nicht einmal einer historischen Sichtweise stand. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert kam Hitler durch demokratische Wahlen an die Macht. Menschen sind heute bei Wahlen nicht unreifer als früher. Sie haben nur weniger Orientierung, auch deshalb, weil Autoritätsglaube zunehmend schwindet. Haben früher „Autoritäten“ die öffentliche Meinung geprägt, so findet Manipulation heute vielschichtiger und weniger offensichtlich statt. Es ist aber das Wesen unserer Demokratie, die dem Grundsatz „one man one vote“ folgt, dass simple Mehrheitsentscheidungen und nicht ein Weisenrat darüber entscheiden, wer uns wie regiert. Die Sentenz „Vox populi, vox dei“ („des Volkes Stimme ist Gottes Stimme“) stammt aus einem Brief Alkuins an Karl den Großen (um 798), findet sich sinngemäß aber bereits in der Antike. Und schon immer begegneten die Eliten dieser Aussage mit Skepsis. So auch Alkuin (übersetzt): „Auf diejenigen muss man nicht hören, die da sagen ´Volkes Stimme, Gottes Stimme´, da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt“. Wo liegt also des Pudels Kern?
Ungewissheit als Wurzel
Verändert haben sich vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ein völlig verändertes Medienumfeld einschließlich digitaler Medien, ein Abbau an Autoritätsgläubigkeit und damit an Vertrauen in Eliten, eine ungeordnet erscheinende und sich schnell ändernde Welt schaffen Orientierungslosigkeit. Frühere Gewissheiten gelten nicht mehr. Die persönlichen Lebensverhältnisse der Menschen und ihrer Angehörigen verändern sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Unsicherheit erzeugt Rebellion, mit politisch teils desaströsen Folgen.
Das allgemeine Volksempfinden nimmt diese Entwicklung wahr. Populisten und politische Clowns werden als Trotzreaktion von Wutbürgern gewählt, um “denen da oben” einen Denkzettel zu verpassen. Schlimmer könne es ja angeblich nicht mehr werden. So wählen Bürger, denen es objektiv betrachtet viel besser geht als Bewohnern in weiten Teilen dieser Welt, „Veränderung um jeden Preis“. Sie spüren, dass sie tendenziell verlieren, dass sie im Vergleich mit anderen zurückfallen, dass sie ihren Kindern keine bessere Zukunft sichern können, wie sie sie in ihrer Jugend erwarten durften. Und sie schlagen daher um sich. Die Polarisierung findet längst nicht mehr nur an den politischen Rändern statt, sie ist in der Mitte der Gesellschaft angelangt. Wohlstandsentwicklung wird in den prosperierenden Gesellschaften Asiens aber ganz anders empfunden. Daher sind diese Systeme auch inhärent stabiler, werden von den Menschen trotz mancher Kritik positiver bewertet und prosperieren besser als unsere. Obgleich das Wohlstandsniveau Europas noch deutlich über jenem Asiens liegt, ist die dortige Politik ungleich stärker auf Wohlstandsmehrung ausgerichtet und damit in den Augen der Menschen auch erfolgreicher.
Fragwürdiges Gebaren
Interessant wird es, wenn „neue“ Bewegungen, die nicht nur Unterhaltungswert produzieren, das politische Parkett betreten. Der Durchmarsch von „La République en Marche!“ von Emmanuel Macron in Frankreich zeigt eine mögliche Perspektive auf, wie es vielleicht gelingen kann, überkommene politische Systeme zu erneuern und gleichzeitig die liberale Demokratie und den westlichen Wertekanon beizubehalten. Dabei handelt es sich um etwas staatspolitisch grundsätzlich Anderes als bei der „Fünf-Sterne-Bewegung“ des Beppe Grillo in Italien oder der Piratenpartei in Deutschland. Auch sind Vergleiche mit Protestparteien wie dem Front National in Frankreich, der AfD in Deutschland nur bedingt sinnvoll, weil diese Parteien weit davon entfernt sind, absolute Mehrheiten erreichen zu können. Aber sie erheben den politischen Aktionismus zur Handlungsmaxime. Wählerstimmenmaximierung wird als Ziel verabsolutiert. Inhaltliche Interessen existieren nicht wirklich. Anders sieht es aus mit den aktuellen Veränderungen in Osteuropa, wo insbesondere mehrheitsfähige politische Bewegungen in Ungarn und Polen für grundsätzliche, auch demokratiepolitische Veränderung stehen, wie immer man das bewerten möge. Wenn auch (noch) nicht so drastisch wie etwa in Russland oder der Türkei, aber dennoch spürbar und nicht unbedenklich findet eine graduelle Abkehr von der „liberalen Demokratie“ statt. In den USA sind die Institutionen wohl zu gefestigt, als dass sie sich durch einzelne Akteure, auch wenn sie Präsident sind, kurzfristig verändern ließen.
Nationalismus ist heute eine Ausprägung des politischen Fundamentalismus, der aktuell um sich greift. Gleichsam als Gegenbewegung zum nihilistischen Internationalismus.
Li(e)chtblicke
Aber es gibt auch Ausnahmen. Mit Bewunderung kann man als Deutscher oder Österreicher in die Schweiz blicken. Dort ist es trotz widriger Rahmenbedingungen (insbesondere währungspolitischer) bislang gelungen, trotz populistischer Tendenzen ihre ureigene Form der direkten Demokratie, gekoppelt mit einer Konkordanzdemokratie (weitgehend starre Konzentrationsregierung) erfolgreich zu bewahren und wohlstandsmehrend für die Bevölkerung einzusetzen. Die Schweizer sind stolz auf ihr Land und stimmen ziemlich regelmäßig bei Volksabstimmungen zukunftsorientiert und verantwortungsbewusst ab. Chapeau!
Und wenn man nach Liechtenstein blickt, würde niemand vermuten, dass es sich verfassungsrechtlich eigentlich um deutlich etwas anderes als nur eine repräsentative Monarchie handelt. Die staatspolitische Stellung des Monarchen ist eine besonders starke und wurde erst vor wenigen Jahren in einer Volksabstimmung weiter gefestigt. Der Monarch weiß die klare Unterstützung des Volkes hinter sich. Und er gebärdet sich natürlich nicht wie ein Despot. Liechtenstein funktioniert kraft offenen Dialogs und Überzeugung wie eine Demokratie, aber eben nicht wie eine „iliberale“. Auch das ist die Realverfassung eines europäischen Staates, der erfolgreich seinen Weg geht, obgleich Liechtenstein einen schwierigen Weg weg von einer reinen Steueroase und Offshore-Destination derzeit erfolgreich bewältigt!
Demokratie in der Kritik
Der leider viel zu früh verstorbene Philosophie- und Sozialhistoriker Panajotis Kondylis beschreibt in seinem erstmals 1991 erschienenen Buch „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“, wie seit fast 150 Jahren in einer kontinuierlichen Entwicklung eine mittlerweile egalitär-massendemokratische, postmoderne Gesellschaft in einer globalisierten Welt ihre bürgerlichen Wurzeln immer stärker verliert. Der brilliante Denker steht politisch links und schlussfolgert, dass der ökonomische Erfolg der bürgerlichen Wertvorstellungen von Freiheit und Gleichheit im Zeitalter der pluralistischen Massendemokratie auch die Ursache ihres Niedergangs sei. Das ist intelligente Demokratiekritik von links.
Hans-Hermann Hoppe ist ein Exponent der Wiener Schule der Nationalökonomie. Er versteht sich selbst als Vertreter eines kulturell konservativen libertären Anarchokapitalismus. In seinem 2003 erschienenen Buch „Demokratie. Der Gott, der keiner ist“ wirft er der westlichen Mediendemokratie vor, dass sie durch staatlich organisierten Diebstahl das Privateigentum beseitigt und damit unter dem Deckmantel der Freiheit die Unfreiheit organisiert und die Gegenwart aus der Zukunft subventioniert. Die staatlich betriebene kulturelle Deregulierung erscheint ihm eher als organisierte Dekadenz. Er sieht den um sich greifenden politischen Nihilismus anders als Kondylis nicht als aus der Breite der Gesellschaft hervorgehende evolutionäre Entwicklung, sondern als tyrannischen Akt des Staates, den er als „grundsätzlich kriminelle Organisation“ betrachtet. Auch wenn es martialisch klingt: Wer Hoppe persönlich kennt, weiß: Das ist sprachlich pointierte, aber intelligente Demokratiekritik von rechts.
Kapitalismusanfeindungen
Mit Stephen Bannon, dem ehemaligen Chefstrategen der Trump-Administration und persönlichen Trump-Freund, sind wir aber bereits in der harten politischen Realität angekommen. Bennon hält mit seiner Verachtung für Staat und Establishment, egal aus welcher politischen Ecke es kommt, nicht hinter dem Berg. 2010 sagte er: “Lenin wollte den Staat zerstören, und das ist auch mein Ziel. Ich will alles zum Einsturz bringen und das komplette heutige Establishment zerstören”. 2017 sprach er sich erneut für eine “Deconstruction of the administrative state” aus. Wie zu sehen ist, sind das nicht nur Phantasien irregeleiteter Intellektueller, sondern bereits politische Realität im Zentrum der Macht. Und plötzlich verschwimmt rechts und links: 2014 erläuterte er im Palazzo der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften seine Auffassung: Der Kapitalismus sei aufgrund seiner jüdisch-christlichen Basis bis zum Ende des Kalten Kriegs in der Lage gewesen, Kultur und Wirtschaftsinteressen der Arbeiterklasse zu vertreten. Fortdauernde Säkularisierung hingegen habe den Neoliberalismus ermöglicht, der außer seinen Eliten niemanden mehr versorge.
Wir sehen also, dass sowohl intellektuelle Eliten als auch Wutbürger unser System im Grunde ihres Herzens, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, verachten oder zumindest als gescheitert betrachten. Die breite Masse wendet sich hingegen von der Politik ab, ist teils desorientiert oder verharrt in ungläubiger Angststarre. Oder aber es ist desillusionierte Gleichgültigkeit. Ich denke, das ist kein akzeptabler Befund. Unsere Demokratie ist offensichtlich fehlgeleitet. Aber ich glaube, es gibt Auswege. Darüber habe ich hier geschrieben.